Gabriela Fink: Meine Freundin, die Angst

Es waren gute Urlaubstage. Gespickt mit sonnigen Spaziergängen und beschaulichen Regentagen, an denen ich keinen Schritt vor die Tür setzen musste. Und dennoch, zur Ruhe gekommen bin ich nicht. Gabriela Fink erzählt von der Angst, die sie eigentlich gar nicht zugeben möchte. Was tun mit ihr, die wie eine Klette an ihr hängt?

Werde ich je wieder zur Ruhe kommen, frage ich mich, in dieser Zeit der Unruhe, die mich nicht einschlafen und zu Unzeiten aufwachen lässt. Die meine Gedanken nicht verstummen lässt, auch wenn ich eine Meditation nach der anderen höre. Die mir den Hals eng macht trotz Bewusstheits- und Atemübungen. Die mir trotz herbeigedachter Zuversicht und vorgetäuschtem Optimismus den ersten Home Schooling-Tag nicht gelingen lässt. Die meine Nerven, die ich dachte gestärkt zu haben, mitsamt der Internet-Verbindung niederbrechen lässt.

Werde ich je zur Ruhe kommen, wenn bereichernde Gespräche und stärkende Sätze nur noch kurz aufatmen lassen und keine Langzeitwirkung mehr haben. Wenn der Druck auf der Brust nicht mehr verschwinden mag, ich positiv denken will und es nicht mehr kann. Wenn mich diese besondere Zeit, von der ich lernen und in der ich wachsen wollte, mich immer wieder zurückwirft in die Startlöcher, auf die Felder Hoffnungslosig- und Mutlosigkeit.

Werde ich zur Ruhe kommen, wenn ich unaufhörlich Menschen sterben sehe, die gar kein Corona haben, sie geben den Kampf gegen eine andere Krankheit auf, die ihnen anheim wohnt in dieser Phase der Aussichtslosigkeit, der fehlenden Perspektive, dem nicht vorhandenen Halt, der Vereinsamung. Die Vergänglichkeit beschäftigt mich mehr denn je, ich schrecke entsetzt hoch, wenn mich die Nachricht eines Todesfalls aus dem Umfeld ereilt. Es werden immer mehr, die gehen. Gerade habe ich ihn noch gesehen, von der Ferne, einen Menschen aus Fleisch und Blut, spazierend, winkend, sogar ein paar Worte haben wir gewechselt und fünf Tage später gibt es ihn nicht mehr. Er hat seinen Geist ausgehaucht, nie mehr wird er spazieren, winken und auf seine Weise reden. Auch wenn das Alter fortgeschritten, der Tod zu erwarten war, so wie er immer zu erwarten ist, braust er mit überdimensionaler Geschwindigkeit so brachial hernieder, dass ich zusammenfahre und erschrocken liegen bleibe.

In all diesem Wirrwarr taucht sie immer wieder auf. Sie, die ich verleugnen wollte, wegatmen, zu Tode meditieren. Jetzt macht sie sich mehr und mehr bemerkbar, wie eine Klette weicht sie nicht von meiner Seite. Etwas zu aufdringlich scheint sie mir, aber ich bin zu matt, um sie zurückzuweisen. Langsam schleicht sie sich in meinen Hals, verwandelt meine Stimme in ein schwaches Krächzen, verschließt mein Herz und legt sich als schwerer Stein auf meinen Brustkorb.

Ich schäme mich ihrer Gegenwart. Ich verstecke sie gut vor fremden Blicken. Ich, die ich von Existenzsorgen bis jetzt verschont geblieben bin, die ich keinen allzu nahestehenden Menschen zu betrauern habe, fühle mich nicht berechtigt, ihr Heimat zu gewähren.

Aber sie gibt nicht auf. Mich hat sie sich ausgesucht, genau hier will sie wohnen, gibt sie mir klar zu verstehen. Kleinlaut fange ich an von ihrer Existenz zu erzählen. In mir wohnt die Angst, sage ich allen, die es hören mögen. All diese Unsicherheit, die uns umgibt, all die Ängste, die herrschen, suchen zielstrebig Wege, um in mich zu gelangen, sich in mir festzusetzen. Ich spüre Trauer um so viele, die so plötzlich nicht mehr sind, um die, die viel zu schnell gehen mussten, die sich nicht verabschieden konnten, die allein gelassen wurden, die “es” sich anders vorgestellt hatten. Ich bin nicht die Ruhige, Besonnene, die ich gerne wäre, stets versuchend andere aufzurichten. Ich bin die Ängstliche, die Betrübte, die schutzsuchend am Boden kauert und die Arme um ihre Beine schlingt.

Es beginnt zu regnen. Hunderte Regentropfen fallen sanft vom Himmel. Es kümmert sie nicht, was rundherum passiert, sie gehen zielstrebig ihren Weg. Durchtränken Wiesen und Felder, löschen den Durst vertrockneter Blumen. Werden freudig aufgenommen vom nach Frische ringenden Boden. Sie werden nicht abgeschoben, nicht hinterfragt. So wie sie sind, sind sie gut für die Natur.

Ich renne, renne einfach los, hinein in den weichen Nieselregen. Ich renne und schreie. Meine heisere Stimme scheint sich aufzuhellen. Ich reiße meine Arme in die Luft und ein Hauch von Leichtigkeit streift meinen Brustkorb. Mitten im grauen Wolkenmeer erkenne ich plötzlich einen hellen Streifen. Auch wenn ich sie im Moment gerade nicht spüren kann, weiß ich, dass sie da ist, meine Freundin, die Angst, während mir die frisch besprühte Welt väterlich entgegenlächelt.

Da weiß ich, dass sie alle in mir Platz haben. Die Angst und die Niedergeschlagenheit, die Mutlosigkeit, die Melancholie. Es ist viel einfacher, sie wie Mutter Erde ganz selbstverständlich aufzunehmen, so wie jede Witterung von Mutter Erde ganz selbstverständlich aufgenommen wird. Ich verspüre eine seltene Ruhe und die nötige Kraft, die ich brauchen werde, um sie durch die Zeit zu tragen. Ich weiß, dass ich mit ihnen gehen werde in die neue Welt, in der es jetzt schon heller wird. In die Welt, in der wir uns nicht befangen gegenüberstehen und verlegen Ellbögen aneinander stoßen, sondern hemmungslos in die Arme fallen. In der Schulden getilgt, Berufsbilder kreiert und jeder genau dort ankommt, wo er so erfüllt ist, dass Aggression und Hass vom Erdboden verschluckt werden. In der alle Toten auferstanden sind und erlöst vom Leiden so befreit und herzhaft lachen, wie schon lange nicht. In der Steine auf Brustkörben plötzlich leicht wie Vogelfedern sind.

In der Ängste ihren Platz haben, weil ihnen gewiss ist, dass die Erde uns auch in schweren Zeiten trägt – und dass sich Herzen immer wieder aufs Neue öffnen.

Gabriela Fink (www.hope-and-shine.at)

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