Das Wunder, von dem Barbara Pachl-Eberhart Ihnen heute erzählen will, steht vor ihr auf dem Tisch. Nicht, weil es da hingehört, es ist keine Kaffeetasse, keine Kerze, kein Teller mit Plätzchen. Sie hat es aus der Spielecke ihrer Tochter geholt. Am Tisch steht es nur, damit sie es genauer anschauen kann, während sie schreibt.
Dabei musste ich vorsichtig sein, balancieren. Am Weg zum Tisch ist ein Teil zu Boden gefallen, ich habe mich langsam gebückt, ihn aufgehoben und sorgfältig wieder ins Ganze eingefügt. Hoffentlich bemerkt meine Tochter nicht, dass ich ihr Wunder berührt und verändert habe. Sie ist ein bisschen allergisch gegen ungefragte Mama-Interventionen.
Das Wunder, das ich gerade betrachte, stammt also von meiner Tochter. Und irgendwie, das finde ich, auch aus der Bibel. Immerhin ist es Noahs Arche, die bei dem Wunder eine Rolle spielt. Und auch eine andere Geschichte, für die man ins Neue Testament blättern muss: die wundersame Brotvermehrung. In Erikas Fall: die Platzvermehrung, die mir – obwohl die Holz-Arche vor mir steht, obwohl ich sie also sehen und zerlegen und angreifen kann, immer noch völlig unerklärlich und wunderhaft erscheint.
Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Ein Spielzeug-Schiffchen aus Holz. Bestehend aus einem Unterteil, etwas so groß wie eines dieser Pappkörbchen im Supermarkt, in denen man vier Äpfel oder ein halbes Kilo Schalotten kauft. Darauf ein Oberteil: ein Holzbrett mit einem Häuschen, Innenmaß etwa ein Apfel – wenn es rechteckige Äpfel gäbe. Das Dach des Häuschens kann man abnehmen, um Figuren hineinzustellen. Normalerweise wohnen in dieser Arche sieben Tierpaare, sowie Noah und seine Frau (wissen Sie, wie sie heißt? Haikal. Musste ich googeln, war gar nicht so leicht zu finden). Erika spielt oft mit ihren Figuren, sie stellt sie an Deck, unter Deck, zu Noah ins Häuschen (da passt nur ein Tierpaar dazu). Wenn alle nach unten müssen, weil es regnet (im Spiel), wird es schon eng. Aber irgendwie kommen immer alle gerade so unter. Bisher.
Jetzt hat mein Kind zum Geburtstag einen Schuhkarton geschenkt bekommen. So einen großen, in dem früher einmal Damen-Sneakers waren. Für den Geburtstag habe ich den Karton mit rosa Geschenkpapier beklebt. Drin waren Einhörner und Elfen von Schleich. Moment, ich zähle nach (und muss das Wunder zerlegen): vier Einhörner, zwei Pegasus-Figuren mit weit ausgebreiteten Flügeln und drei Elfen, auch sie beflügelt. Der Schuhkarton war gut befüllt, bis zum Rand. Ich habe ihn als „Gesamtpaket“ gebraucht über einen Online-Flohmarkt gekauft.
Als meine Tochter vorgestern mit dem Spielen begann, standen auf dem geschlossenen Karton noch zwei Badeentchen, eines mit Buch, eines mit Kussmund. Die hat sie sich auch zum Geburtstag gewünscht.
„Die kommen jetzt in die Arche“, sagte mein Kind mit entschiedenem Blick. „Das wird sich nicht ausgehen“, sagte ich. Gott sei Dank hörte es Erika nicht. Oder sie hörte nicht hin. Lieber stopfte sie das erste Entchen in den Schiffsbauch. „Der Schnabel schaut drüber, da passt das Brettchen nicht mehr drauf“, wollte ich sagen, aber ich hielt mich heldenhaft zurück. Nun sollte das zweite Entchen zum ersten. Das ging, weil Erika die ursprüngliche Besatzung (die vierzehn Holztiere) einfach zusammenschob (normalerweise ein Sakrileg, die brauchen doch Platz und Löwen dürfen nicht neben den Elefanten stehen!). Heute war das kein Problem. Jetzt ist der Pegasus dran. Der mit den ganz großen Flügeln. Die standen natürlich auch über, aber ich hielt weiter den Mund. Einhornmama – irgendwie noch untergebracht, hätte ich nicht gedacht. Einhornpapa – nein, das geht aber wirklich nicht mehr! – auf die Holztiere gelegt.
„Und jetzt noch die zwei Kleinen“, juchzte meine Tochter. Und fand auch noch Platz für sie. (Vielleicht macht sie später einmal Karriere als Amazon-Paketlogistikerin. Vielleicht zahlt Amazon ja endlich gut, wenn sie erwachsen ist.)
Jetzt erwartete ich den Frust. Denn jetzt sollte der Deckel, das Brettchen drauf, das mit dem Häuschen. Er würde wackeln, nicht halten. Dachte ich. Und rechnete mit Trotzphasen-Ärger und dem üblichen „Mama, du bist blöd“. Aber ich irrte mich: Die überstehenden Teile der Plastiktiere schufen irgendwie eine Ebene, auf der das Brett balancierte. Es kippte zwar leicht, als Erika die große Elfe auf dem Deck platzierte, aber es hielt. Als sie den Elfenkönig auf die andere Seite stellte, war wieder alles im Lot. Nun noch: Noah, Haikal, ein Pegasus-Kind und eine weitere Elfe. Noch ein letztes Mal wollte mein Zweckpessimismus das Wort ergreifen, wieder schaffte ich es gerade noch, den Mund zu halten. Die vier Figuren landeten im Häuschen. Übereinander. Kein Problem. Ein Dach braucht doch (anders als sonst) wirklich kein Mensch.
Ich staune immer noch. Baue das Kunstwerk wieder zusammen. Staune noch einmal, dass es mir, auch mir, gelingt. Ehe ich die Arche, das Wunder wieder in die Spielecke trage, frage ich mich, ob ich ihr eine Lehre abringen soll, eine höhere Botschaft, eine Haltung für den restlichen Tag. Das Einhorn schaut mich an, mit großen Augen und Würde im Blick. „Das brauchst du nicht“, scheint es zu sagen. „Du hast es doch schon verstanden.“ Ich glaube, es hat recht. „Das geht nicht“ wird mein Kind so schnell nicht mehr hören. Höchstens, wenn es morgen wieder versucht, sich ganz ohne Hilfe anzuziehen. Aber vielleicht nicht einmal da. Denn wer weiß …
Barbara Pachl-Eberhart, 47, arbeitet als Autorin und Schreibpädagogin in Wien. Ihr Buch, „Wunder warten gleich ums Eck“, ist im Integral-Verlag erschienen und jetzt auch als Taschenbuch erhältlich. Aktuelles Buch im Terzium-Verlag: „Chopin besucht Vivaldi und in der Bucht von Venedig schwimmen Delfine. Mein Tanz mit dem kleinsten Feind der Welt. Ein Corona-Tagebuch“. Alle Bücher der Bestsellerautorin gibt es auch unter: www.mondhaus-shop.de. Für das ENGELmagazin geht sie auf die Suche nach den Wundern des Alltags.