Barbara Pachl-Eberhart steht am Fenster. Draußen ist es schon dunkel, sie sieht nur schwarz – und sich selbst, die Küchenbeleuchtung, den Wasserkocher, in dem gerade das Wasser für ihren Tee heiß zu werden beginnt. Es brodelt, der Kocher schaltet sich ab, mit einem Klick, sie steht noch am Fenster. Es weint aus ihren Augen.
Mein Mund lächelt, lacht, sagt „Heli“. Ich streichle meine eigenen Wangen, langsam, behutsam. „Schön bist du“, flüstere ich. Und wende mich ab, beschenkt und geliebt.
Es war im Frühjahr 2020. Eigentlich sollte ich gerade in Gelsenkirchen sein und ein Seminar leiten, aber wir mussten auf online umsatteln. Deshalb stand ich in meiner eigenen Küche, als die Begegnung geschah.
„Ein Wochenende mit dir“ hieß das Seminar, das ich leitete, damals zum ersten Mal und seither schon sechs Mal mit Gruppen von jeweils zwölf Menschen. Inzwischen lade ich meine Teilnehmer*innen am ersten Kursabend zu eben jener Erfahrung ein, die mir beim ersten Mal, abends nach dem ersten Kurstag, wie zufällig zuteilgeworden ist. Ich rege an, sich an ein Fenster zu stellen und sich selbst anzusehen – so lange, bis sie sich durch die Augen des geliebten gestorbenen Menschen sehen, mit dem sie zu diesem Wochenende gekommen sind. Liebende Augen aus einer weiteren Welt. „Durch deine Augen sehe ich …“, schreiben wir dann. Dabei fließen immer Tränen, warme und heiße, liebevoll leise.
„Drei innige Tage mit einem Menschen, der schon im Himmel wohnt“ lautet der Untertitel des Seminars, zu dem Menschen mit gestorbenen Kindern ebenso kommen wie Witwen, Töchter und Söhne gestorbener Mütter, verwaiste Geschwister und beste Freund*innen. Von Freitag bis Sonntag gestalten wir unsere Zeit – mit dem klaren Ziel, die Verbindung zum Menschen im Jenseits zu kräftigen, zu klären, die Erinnerungen ans gemeinsame Leben zu beleben und zu bedanken und Schmerzpunkte gut einzubetten in ein größeres Ganzes.
Eine gewagte Idee, die ich da hatte, als ich das Seminar entwarf: Kann man Verbindung auf Knopfdruck herstellen? Kann man einem Menschen innerhalb von drei Tagen wieder richtig nahekommen, auch wenn er seit dreißig Jahren tot ist, ja: auch, wenn man ihn nie kennengelernt hat (wie zum Beispiel der eigene Vater, der die schwangere Mutter verließ)? Heute darf ich aus Überzeugung sagen: Ja, das geht. Es will gehen, sage ich fast, weil ich den Eindruck habe, dass sich unsere lieben Gestorbenen dankbar zu uns gesellen, sobald wir uns nur für gewidmete Zeit entschließen und dranbleiben, auch wenn es nicht sofort passiert.
Ich möchte hier über ein paar Zugänge schreiben, die sich im „Wochenende mit dir“ immer wieder bewähren und jederzeit, auch zu Hause, eingesetzt werden können. Wenn Sie gern anrufen würden, aber die Nummer nicht mehr existiert. Wenn Sie den Fahrstuhl zum Himmel gern fänden. Oder wenn die Sehnsucht sich meldet, im Traum oder in Tränen.
Wenn das Seminar beginnt, stellen wir einander erst einmal vor – als die, die wir sind, mitten im Leben. Noch ohne „die Geschichte“, die mit dem Tod geendet hat. Danach sprechen wir (nur) die Namen der gestorbenen Begleiter aus. Und notieren sie auf ein Kärtchen aus Büttenpapier, auf die wir ein Herz kleben. Schon da beginnt die Verbindung spürbar zu werden.
Das Kärtchen kommt in die Tasche oder unter den Stuhl oder vorne ins Heft und wird zur Begleiterin, zum Erinnerungsanker. Einige Kärtchen sind schon mitgekommen, zum Essen, ins Bett, auf Spaziergänge, am Ende waren sie manchmal zerknittert. Dafür waren die Gesichter der Menschen glatt und gelöst.
Eine Übung des ersten Abends ist simpel, so simpel, dass ich ihr nicht den Namen „Aufstellung“ geben will. Ich bin kein Medium und auch keine geübte Aufstellerin. Ich biete mich nur einfach an, als physische Stellvertreterin des geliebten Menschen. „Stell uns so auf, wie es sich stimmig anfühlt. Und wenn sich etwas bewegen will, erlaube es dir.“ Wie oft bin ich bei dieser Übung schon innig umarmt worden. Wie oft hat die Umarmung lange gedauert – subjektiv lang, vielleicht eine Minute. Objektiv kurz, im Vergleich zu drei oder dreißig Jahren der Sehnsucht. Ich höre von Heilung, nach dieser Umarmung. Von angekommen sein. Von gehen lassen können. Kann es wirklich so einfach sein? Sicher nicht immer und für alle. Aber es rührt mich, wie oft ich die erste bin, die stellvertretend umarmt wird – und wie lange Menschen auf solch eine letzte oder heiß ersehnte Umarmung warten mussten. Ich bin nichts Besonderes – einfach ein Mensch, der sich zur Verfügung stellt. Ich glaube, jede und jeder von uns kann dieser Mensch sein, jederzeit.
Am zweiten Tag spreche ich über die Idee, dass Beziehungsglück aus vier Komponenten besteht, und zwar sowohl zwischen Lebenden als auch in Beziehungen zwischen Himmel und Erde. Ich nenne diese Komponenten „Du-ig“, „beid-ig“, „wir-ig“ und „ich-ig“. Soll heißen: Das Glück aneinander, das Glück miteinander, das Glück in größeren geborgenen Kreisen – und das Glück, etwas alleine zu tun und sich geliebt zu wissen vom andern, der im Nebenraum (oder geistig in der Nähe) ist.
All diese Qualitäten von Glück lassen sich übersetzen auf die Beziehung nach dem Tod, am leichtesten das „ich-ige“ Glück, denn unser lieber Mensch ist ja jetzt immer bei uns und auf unserer Seite. Am schwierigsten ist das „wir-ige“ Glück, denn genau das (im Sinne von Sex, Umarmung, innigem Anschauen und Riechen und Hören) fehlt uns ja am meisten. Hier übernimmt die Dankbarkeit, als Trägerin der Botschaft: Du hast es erlebt. Es ist da, in Dir, als unlöschbare Erfahrung.
Buchtipp
Barbara Pachl-Eberhart:
„Warum gerade du? Antworten auf die großen Fragen der Trauer“
Heyne Verlag
Erhältlich auch unter: www.mondhaus-shop.de