Da sind viele Menschen, die alle aus diesem ICH-Bedürfnis und der ICH-Haltung miteinander kommunizieren. Sie scheinen alle wie auf einem großen, überdimensionalen Schachbrett zu stehen, jeder in seinem Feld. Zwischen den Beteiligten ist ein großer Abstand. Jeder steht für sich allein, darüber schreibt jetzt Daniela Hutter.
ICH möchte das jetzt nicht.
ICH brauche, dass man …
Für MICH ist wichtig, dass es …
Das will ICH nicht, weil …
Das kann ICH nicht akzeptieren, denn …
Dieses Bild entsteht nicht zum ersten mal in meinem Kopf. Und es entsteht seit einiger Zeit immer öfter. Und manchmal erinnere ich mich dabei an die Zeit, als ich noch als Pädagogin arbeitete. Damals ging es vor allem darum, die Individualität der Kinder zu stärken, ihre Persönlichkeit und ihre Kreativität zur Entfaltung kommen zu lassen. Aber schon damals überkamen mich gelegentlich Zweifel, ob ein Zuviel an Individualität nicht auch dazu führen könnte, lauter Egoisten heranzuziehen.
Heute als Coach stelle ich mir ähnliche Fragen. Wenn ich in Seminaren an Alltagsthemen arbeite, stoße ich manchmal auf übergroße Ich-Bezogenheit. Ich höre für mein Empfinden einfach zu viele „Ich-Sätze.“ Das Ich steht im Vordergrund, auch wenn es um das Miteinander in Beziehungen, Familien, Partnerschaften und Teams geht. Und da frage ich dich, liebes Ich: Wo bleibt das Wir?
Ja, ich weiß sehr gut, wie wichtig Selbstliebe, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein sind. Aber darf man aus all dem auch eine gnadenlose Ich-Bezogenheit schmieden? Was geschieht, wenn alle das machen?
Es ist gut, einen eigenen Standpunkt zu haben. Aber es kann gefährlich sein, wenn dieser Standpunkt verhindert, den Blick auf die Anliegen, die Bedürfnisse und die Sichtweisen des anderen zu richten. Dann richtet diese übergroße Ich-Bezogenheit manchmal einen Schaden an, der so leicht nicht wieder gutzumachen ist. Da gehen Beziehungen in die Brüche, die bei mehr gegenseitigen Verständnis sehr wohl hätten überleben können. Aber je mehr Raum der Einzelne für sich beansprucht, desto mehr schrumpft der Raum für das Miteinander.
Als Seminarleiterin und auch als Autorin gerate ich da oft mitten in die Brösel. Ich muss meine Klienten*innen unterstützen, ihre Bedürfnisse wahrnehmen, und ihre Wünsche in den Mittelpunkt meiner Arbeit stellen. Und immer rate ich ihnen, ihr Leben aus einem gesunden Ich-Bewusstsein heraus zu gestalten. Sollte ich daran etwas ändern, wenn ich sehe, dass bei manchem das Ich-Bewusstsein deutlich überperformed? Ich frage mich dann: Bin am Ende ich dafür verantwortlich? Daraus ergibt sich mein Dilemma, deshalb die Brösel …
Ich beobachte nicht selten, dass die Menschen sich aus einer übersteigerten Ich-Haltung in eine Lebenssituation hineinmanövrieren, die aus meiner Sicht – zumindest nicht in jedem Fall – eine Verbesserung ist. Wieder stellt sich dann ein Coaching-Bedarf, nur eben unter anderen Voraussetzungen.
ICH – oder WIR? Alleine oder Miteinander? Individuell oder gemeinsam? An solchen Fragen bleibe ich als Autorin in letzter Zeit immer öfter hängen. Wie groß ist da eigentlich meine Verantwortung, den Blick der Menschen mehr auf das Miteinander zu lenken?
Ich spüre, wie mein Verstand eine Antwort aus meinem Inneren abholen will, aus meinem tiefen, fühlenden Bewusstsein. Es dauert eine Weile, aber dann fühle ich, wie sich meine Gedanken ordnen und mir einen Weg aus meinem Brösel-Dilemma zeigen.
Mir ist, während ich diese Zeilen schreibe, klar geworden, dass ich mich nach meinen eigenen Werten ausrichten muss. Und alle Richtungszeiger in meinem Inneren deuten auf das WIR und das Miteinander. Ich bin auch sicher, dass das WIR das ICH in keinster Weise unterdrückt, ganz im Gegenteil. Erst im Miteinander entwickelt sich das ICH zu seiner ganzen Größe. Das WIR ist das ICH in seiner schönsten Form! Ich spüre mehr und mehr, dass diese Erkenntnis ein Teil meines Seelenauftrags ist. Und ich werde in meiner Arbeit versuchen, diesem Seelenauftrag gerecht zu werden. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass die Menschen, die zu mir kommen mir auf der Seelenebene begegnen werden und meine Botschaft verstehen und verinnerlichen werden.
Mein inneres Bild vom Schachbrett verändert sich gerade. Die Begrenzungen lösen sich auf, die Figuren beginnen sich zu bewegen. Die Menschen kommen sich näher, manche gehen aufeinander zu. Und es wird deutlich: Richtiges Leben entsteht erst durch das Miteinander. Eine Botschaft, die ich als Coach gerne an alle weiterreiche, die bereit sind, sie aufzunehmen.
Ich freue mich, wenn du mir von deinen Gedanken dazu erzählst: info@danielahutter.com
Daniela Hutter schreibt, bloggt, spricht und lehrt als Autorin, Coach und Seminarleiterin.
www.danielahutter.com.
Buchtipp: „Mach dein hell“. Erhältlich direkt bei der Autorin oder unter: www.mondhaus-shop.de