Um Mitternacht am Züricher Hauptbahnhof. Es gießt in Strömen. Kein Taxi in Sicht. Gayan Sylvie Winter habe eine Anschrift in der Nähe des Zürichberges, wo ich übernachten soll. Morgen Früh beginnt in der Buchhandlung im Licht meine Frauengruppe. Ich laufe, so schnell es geht, hinüber zu den menschenleeren Straßenbahnlinien.
Aber ich weiß nicht, welche mich zu meiner Adresse bringen kann. Und es kommt auch lange keine Bahn. Ich schaue hinüber zum Bahnhof, aber auch dort hat sich noch immer keine Taxe gezeigt. Nach einer guten halben Stunde ist meine Kleidung feucht und ich beginne zu frieren.
Plötzlich steht eine kleine, alte Dame neben mir. Sie lächelt und fragt mich, wo ich denn hin wolle? Ich blicke in liebevolles, verrunzeltes Gesicht, halb unter einer silbergrauen Haube verborgen. Sie trägt einen langen, dunklen Umhang und hat einen großen, schwarzen Regenschirm bei sich. Ihre Kleidung ist zwar altmodisch, aber ganz fein gewoben, wie aus einer anderen Zeit.
Wir beginnen gerade ein Gespräch, als aus der Dunkelheit eine Straßenbahn um die Ecke biegt. „Die nehmen wir“, sagt sie, nachdem ich ihr meine Adresse genannt habe.
In der Bahn sitzen wir zuerst ganz still nebeneinander. Dann beginnt sie mich zu fragen, was ich in Zürich mache. Ich erzähle ihr von meiner Arbeit. Dass ich zwei Mal im Jahr aus den USA komme und jetzt für eine Gruppe hier bin, in der nur Frauen sind. Sie nickt und drückt meine Hände. Dabei fühle ich eine wohltuende Wärme in mich einströmen. Ein friedliches Gefühl breitete sich in mir aus. Nach einer guten Weile erreichen wir eine Haltestelle, die ich nicht kenne. Hier steigen wir aus. Die alte Dame nimmt ihren Schirm und geht voran. Im Licht der Straßenlampe sehe ich den noch immer stetig fallenden Regen und hoffe, dass mein Ort nicht allzu weit fort liegt. Ich will mich verabschieden, da ich sie nicht noch länger bemühen möchte, mitten in der Nacht. Doch sie spannt ihren Schirm auf und besteht darauf, mich bis an die Tür zu begleiten. Und so gehen wir langsam eine sehr steile Steige hinauf, bis wir linkerhand vor einer großen, eisernen Türe landen, die meine Hausnummer angibt. Ein kleines Licht brennt im ersten Fenster. Erleichtert stelle ich meinen Koffer ab und drehe mich zu ihr um.
Doch jetzt ist sie auf einmal fort und die Steige ist menschenleer. Noch vor einem Moment, stand sie hinter mir! Weiter nach oben hin befindet sich nur noch ein hoher Holzzaun. Ich lasse meine Sachen stehen und laufe so schnell es geht den Weg hinunter, bis zur Haltestelle. Doch auch die Straße ist vollkommen verlassen.
Wie benommen gehe ich durch den prasselnden Regen hinauf, zurück zur Türe, wo das Lichtlein brennt. Das Haus ist offen und ich finde mein Zimmer. Im Dunkeln entledige ich mich meiner nassen Kleidung und schaue aus dem Fenster in die Nacht. Jetzt erschallt heftiger Donner und grelle Blitze erhellen den Himmel.
Wie kann ein alter Mensch bloß so schnell verschwinden? Und warum, durfte ich ihr keinen Dank ausdrücken? Ich versuchte mich, fast vergeblich, an ihr Gesicht zu erinnern … Doch die Erinnerung schien immer mehr und mehr zu verblassen. Es war fast durchsichtig und es strahlte nicht nur ein weiches Licht, sondern auch eine unendliche Güte und Wärme aus. In diesem Augenblick durchfuhr mich der Gedanke, dass sie vielleicht gar kein gewöhnlicher Mensch gewesen war. Sondern ein Engel ohne Flügel, der mich aus der Finsternis der Nacht, zum Licht geführt hatte. Ein Engel, der mitten in der Nacht wie aus dem Nichts aufgetaucht war und wieder ins Nichts verschwand … Er war in der Gestalt einer alten Dame erschienen. Und ich spürte in diesem Augenblick, dass ich ihm in dieser Form, nicht das erste Mal begegnet war. Erlöst und dankbar faltete ich meine Hände zu einem Nachtgebet.
Sylvie Winter ließ in den Siebziger-Jahren zwei erfolgreiche Karrieren hinter sich und ging nach Indien. Dort verbrachte sie sieben Jahre in Oshos Meditationszentrum und studierte verschiedene Religions- und Meditationswege. Jenseits aller Dogmen und Glaubensrichtungen bot sie später Seminare in Europa an. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, u. a. das „VISION QUEST TAROT“. „HOFFNUNG IST DER SCHLÜSSEL“, mit einem Vorwort von CHRIS GRISCOM, welches ihren Heilungsweg aus einer schweren Krebserkrankung beschreibt (ist über KINDLE, erhältlich). Gayan Sylvie Winter, lebt seit 35 Jahren in New Mexico und schreibt Artikel über spirituelle Themen.