Selbstvergebung. Ein wichtiges Wort, wie Autorin Johanna Kramer findet. Eines, das für jeden von uns Bedeutung hat. Und doch gibt es kein Schulfach, in dem wir von Anfang an lernen, uns gute Geschichten über uns selbst zu erzählen. Kaum einer bringt uns bei, wie wir es schaffen, nicht ständig in der Vergangenheit zu leben.
Wie wir uns von Groll gegen uns selbst und anderen gegenüber lösen können. Dabei ist Selbstvergebung genau das, was wir uns gewähren dürfen, wenn wir den Wunsch nach Heilung haben. Doch selbst wenn wir den Sinn darin für einen flüchtigen Moment erkennen,
warum verwerfen wir seine Bedeutung im nächsten Moment wieder?
Vielleicht weil wir nicht wissen, wie wir es angehen können. Womöglich scheint das Wort Vergebung zu groß. Viel größer als wir selbst. An manchen Tagen reicht es bis in die Wolken und darüber hinaus. Vielleicht erscheint uns die Handlung, die damit zusammenhängt, zu schwer. Wie sollen wir das bloß schaffen? Und warum sollte man sich selbst überhaupt irgendetwas vergeben? Was möchten wir uns selbst verzeihen? Das sind Fragen, die dir vielleicht auch in den Sinn kommen. Vielleicht weißt du beim Lesen auch schon ganz genau, worum es für dich persönlich geht. Auf den ersten Blick scheint Selbstvergebung ein seltsames Konzept zu sein, aber einmal praktiziert, kann es unser Leben bedeutend verändern. Denn Selbstvergebung fordert uns dazu auf, die Art und Weise, wie wir uns in der Welt bewegt haben, zu hinterfragen.
Hast du dich schon einmal in einer Situation befunden, in der ein Freund oder ein Familienmitglied etwas Ähnliches durchgemacht hat wie du selbst, und du bist ihm mit Mitgefühl begegnet, wenn es jedoch um dich selbst ging, warst du sehr hart zu dir? Vielleicht warst du auch schon einmal in der Situation, dass du vor Jahren etwas getan hast, das möglicherweise alles ruiniert hat und dich jetzt nachts wachhält? Bist du manchmal nicht in der Lage, dir selbst zu vertrauen, das Richtige zu tun? Oder hast du das Gefühl, dass du eine Herausforderung nur dann meistern, ein Ziel nur dann erreichen kannst, wenn du dich selbst in Gedanken schikanierst oder dich klein machst, weil es schwer sein muss, bevor es leicht sein darf?
All diese Szenarien bergen ein gewisses Maß an Vergebung in sich, das wir nutzen können, um uns von all dem zu befreien, was uns daran hindert, in Freiheit, Liebe und Leichtigkeit zu leben. Wenn dir das nächste Mal etwas passiert, das aus deiner Sicht ein Fehler ist und der dir zu schaffen macht, nimm dir etwas Zeit für dich und beantworte dir in Ruhe ein paar Fragen.
Am kraftvollsten ist dieses kleine Ritual, wenn du es schriftlich durchführst:
– Wie reagiere ich gerade auf mich und mein Handeln?
– Wie fühle ich mich dabei?
– Welche Geschichte erzähle ich mir gerade (schon wieder) über mich?
– Wurde mir schon einmal von jemand anderem Vergebung angeboten?
Wie hat sich das angefühlt?
Oft wiederholen wir in unserem Kopf die harten Worte, die wir zu uns selbst gesagt haben. Worte, die wir uns vielleicht schon viel zu lange sagen. Manchmal wiederholen wir auch nur die Worte eines anderen über uns, die wir irgendwann einmal aufgeschnappt haben, oder Worte, die uns oft gesagt wurden. Achte einmal darauf: Welche Worte verwendest du, wenn du dich selbst beschuldigst und dir Vorwürfe machst? Sind diese Worte fair? Wo kommen sie wirklich her? Es ist leicht, unsere kostbare Zeit damit zu verbringen, sich schlecht zu fühlen, sich selbst zu beschimpfen und hart mit sich ins Gericht zu gehen, wenn man Fehler begeht. Doch wie viel Zeit verbringen wir stattdessen damit, uns selbst gegenüber mitfühlend zu sein?
Selbstvergebung kommt mit Selbstmitgefühl. Sie kommt mit der Wahrheit, dass wir immer liebenswert und für uns selbst erlösbar sind, ungeachtet dessen, was die Welt uns für Geschichten über uns erzählt hat. Ungeachtet dessen, welche Geschichten wir uns selbst jeden Tag über uns erzählen. Selbstvergebung kommt von der Fähigkeit, uns selbst und unsere Fehler zu akzeptieren, die Teile von uns zu sehen, die nicht genug wussten, und ihnen für die Situationen zu verzeihen, in die sie uns geführt haben.
Manchmal kann eine Handlung, die wir tun, schlecht für uns sein. Und wenn wir uns selbst die Schuld geben, ist es wichtig, die Verantwortung für das, was wir getan haben, zu übernehmen. Doch es ist genauso wichtig, dies nicht als unsere einzige und ganze Identität zu betrachten. Ja, vielleicht haben wir einen Fehler gemacht, etwas getan, was uns oder anderen schadet, aber sind wir deshalb als Ganzes „schlecht“? Das ist eine wichtige Unterscheidung, die wir treffen dürfen. Sie ermöglicht es uns, Verantwortung zu übernehmen, aus dem Kreislauf der Schuldzuweisung auszusteigen und Raum für unser Wachstum zu schaffen.
Was also, wenn Selbstvergebung gar nicht so schwer ist? Was, wenn es gar nicht darum geht, einen Standpunkt zu erlangen, von dem aus wir alles für Richtig befinden, was wir tun oder in der Vergangenheit getan haben? Was, wenn es vielleicht nur darum geht, uns selbst etwas zu geben, uns etwas zu schenken. Auf ganz unaufgeregte Art und Weise.
Was wenn Selbstvergebung eigentlich nur bedeutet, zu verstehen? Uns selbst, unsere Vergangenheit, unsere Beweggründe und unseren Bewusstseinszustand.
Wenn es dir schwerfällt, dir selbst mit mehr Mitgefühl zu begegnen, mache folgende Übung und wechsle die Perspektive: Stelle dir vor, du hättest es mit einem Kind zu tun, oder mit einer jüngeren Version von jemandem, den du liebst. Wie würdest du mit dieser Person umgehen, wenn sie einen Fehler begeht. Was würdest du sagen, wenn sie dir mit strengen und harten Worten von ihren Selbstvorwürfen erzählt? Welche Botschaft würdest du dieser Person vermitteln?
Denke darüber nach, was du sagen würdest, und antworte dir selbst auf die gleiche Weise. Schreibe es auf. Schreibe deine Geschichte über dich neu. Bringe deine Liebe und dein Mitgefühl zu Papier und öffne deine Arme weit für die Person, die dir im Spiegel entgegenblickt und sage dir: Du lernst gerade. Du bist genug. Du bist gut. Dir ist vergeben. Du hast die Macht, dich selbst zu befreien.
Den ganzen Artikel können Sie im ENGELmagazin Juli/ August 2022.
Johanna Kramer ist ausgebildete Europakorrespondentin und machte ihren Bachelor in International Business Communication. Einige Jahre arbeitete sie im Vertrieb eines Großkonzerns, reiste beruflich viel durch die Welt und kündigte schließlich ihren Job, um sich auf die Suche nach ihrer Leidenschaft zu machen. Seit 2016 verfolgt sie ihren Traum, Schriftstellerin zu werden. „Bücher haben mir schon oft das Leben gerettet. Sie kommen nicht zufällig zu uns, sondern begegnen uns genau im richtigen Augenblick. Ich möchte die Menschen mit meinen Worten berühren. Wenn mir das gelingt, bin ich glücklich.“
Mehr Infos über die Autorin gibt es unter www.johannakramer.de