Deine Müdigkeit wird dein spiritueller Wegweiser sein. Müde werden Menschen in jedem Lebensalter. Kinder werden müde, wenn sie den ganzen Tag spielen. Jugendliche sind abends müde, vor allem aber morgens, wenn es ans Aufstehen geht. Da haben sie den Eindruck, dass sie weiterschlafen müssten, um ihre Müdigkeit abzuschütteln.
Erwachsene Menschen werden müde, wenn sie viel gearbeitet oder zu wenig Schlaf haben. Die Art von Müdigkeit, die ich in diesem Buch beschreiben möchte, erlebe ich bei vielen Menschen jeden Alters. Besonders oft scheint mir diese Müdigkeit jedoch Menschen zwischen fünfzig und sechzig Jahren zu treffen. Sie haben die Krise der Lebensmitte hinter sich, in der es um Neuorientierung ging. In der Lebensmitte haben sie sich gefragt: „Soll das alles gewesen sein? Geht es beruflich immer nur bergauf? Oder bin ich an der Grenze angekommen? Was zählt jetzt in meinem Leben?
Die Lebensmitte ist die Herausforderung, von außen nach innen zu gehen. So hat vor allem der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung die Lebensmitte beschrieben. Wenn die biologische Kurve sich nach unten neigt, kann die psychologische Kurve nur dann aufsteigen, wenn der Mensch sich seinem Innern zuwendet, seinem inneren Zentrum, dem Selbst. In dem Alter zwischen fünfzig und sechzig Jahren beobachte ich eine andere Grundstimmung. Man hat viel an sich gearbeitet. Man hat sich der Krise der Lebensmitte gestellt, hat sein Leben verändert und einen neuen Rhythmus für sich gefunden. Man hat die ungesunde Ernährung umgestellt und geht auf Selbsterfahrungs- und Meditationskurse. Man hat viele Formen von Spiritualität probiert und viel gelesen. Doch jetzt macht sich ein Gefühl von Müdigkeit breit. All die Erwartungen, die man in die Bewältigung der Krise der Lebensmitte gestellt hat, all die spirituellen und therapeutischen Wege, die man gegangen ist, all die sportlichen und gesundheitlichen Ratschläge, denen man gefolgt ist, haben einen nicht letztlich glücklich gemacht. Jetzt macht sich ein Gefühl von Müdigkeit breit: „Ich habe so viel an mir gearbeitet. Ich habe so viel probiert. Was soll das alles? Hat es etwas gebracht? Bin ich wirklich glücklich?“
Es ist gut, wenn wir solche Gefühle von Müdigkeit nicht wegdrängen. Denn die Gefahr besteht darin, sich nicht eingestehen zu wollen, dass all das, was man an Wegen gegangen ist, nicht wirklich zum Ziel geführt hat. So will uns die Müdigkeit herausfordern, uns neu zu fragen, worum es in unserem Leben eigentlich geht. Wir haben bewusst gelebt. Wir haben all die spirituellen Ratschläge, die uns die christliche Tradition gegeben hat, befolgt. Wir haben esoterische Wege ausprobiert. Wir haben in östlichen Religionen gesucht und Zen-Meditation geübt. Aber wenn wir ehrlich sind, die letzte Erfüllung hat das alles nicht gebracht. Manche möchten sich das lieber nicht eingestehen. Sie haben sich ja so angestrengt. Sie möchten nicht infrage stellen, was sie leben. Daher schwärmen sie von ihrem momentanen spirituellen Weg. Sie haben den Eindruck, jetzt nach allem Suchen das Eigentliche gefunden zu haben. Doch je mehr Menschen von ihrem spirituellen Weg schwärmen, desto skeptischer werde ich. Ich habe dann oft den Eindruck, dass sie ihre Lebensweise rechtfertigen müssen, nicht nur vor anderen, sondern letztlich vor sich selbst. Denn in ihnen selbst sind tiefe Zweifel, ob das alles wirklich weiterführt. Das Gefühl von Müdigkeit, das viele verdrängen, wäre die Chance, nochmals neu über sein Leben nachzudenken: Worum geht es denn eigentlich? Was möchte ich mit meinem Leben ausdrücken? Welche Erwartungen habe ich an das Leben, welche Erwartungen habe ich an Gott und an mich selbst? Die Erfahrung des Müdeseins ist nicht neu. Schon der fränkische Dichter Friedrich Rückert (1788-1866) hat in seinem Gedicht „Ich bin müde“ das Phänomen beschrieben.
Ich bin müde Ich bin müde, sterbensmüde; Ich bin müde, lebensmüde; Dieses Bangens und Verlangens, Dieses Hoffens, Bebens müde; Dieses zwischen Erd und Himmel Auf- und Niederschwebens müde; Dieses spinnengleichen Webens Hingespinste-Webens müde; Müde dieser Torenweisheit, Stolzen Überhebens müde. Auf, o Geist, in diesen Fesseln Ring dich nicht vergebens müde! Schwing dich auf zu deinem Äther, Des am Staube Klebens müde.
Die Müdigkeit stellt alles infrage. Sie stellt mein Leben in Frage. Habe ich richtig gelebt? Hat es sich gelohnt, dieses Leben zu leben, auf vieles zu verzichten, sich für die anderen und für die eigenen Ziele einzusetzen? Was ist daraus geworden? Bleibt die Frucht meines Lebens oder verblüht sie schnell? Manchmal ist die Müdigkeit, die einen überfällt, auch der Beginn einer inneren Wandlung. So hat Hermann Hesse die Müdigkeit von Siddhartha beschrieben. Nachdem er das Leben mit all seinen Verlockungen erlebt hatte, kam er an den Fluss, über den ihn vor zwanzig Jahren ein Fährmann geführt hatte: „An diesem Flusse machte er halt, blieb zögernd beim Ufer stehen. Müdigkeit und Hunger hatten ihn geschwächt, und wozu auch sollte er weitergehen, wohin denn, zu welchem Ziel? Nein, es gab keine Ziele mehr, es gab nichts mehr als die tiefe leidvolle Sehnsucht, diesen ganzen wüsten Traum von sich zu schütteln, diesen schalen Wein von sich zu speien, diesem jämmerlichen und schmachvollen Leben ein Ende zu machen.“ (Hesse, Siddhartha 72)
Den ganzen Artikel können Sie im ENGELmagazin März/ April 2021 lesen.
Pater Anselm Grün, geb. 1945, Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, geistlicher Begleiter und Kursleiter in Meditation, Fasten, Kontemplation und tiefenpsychologischer Auslegung von Träumen. Seine Bücher zu Spiritualität und Lebenskunst sind weltweite Bestseller – in über 30 Sprachen. Sein einfachleben- Brief begeistert monatlich zahlreiche Leser (www.einfachlebenbrief.de).